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Resilienz in Zeiten des Coronavirus (65)

Gehtdoch

Ökonomische Resilienz durch vorsorgendes Wirtschaften

Wir erleben gerade Distanz und Nähe, Verlangsamung und Beschleunigung. Lokal, regional, global, fast zeitgleich. Welche Perspektiven ermöglichen uns diese aussergewöhnlichen Erfahrungen? Die Corona-Krise ist auch eine Art Fallstudie für unsere Fähigkeit, Krisen zu managen. Viele scheinbar unerschütterliche Strukturen stehen auf dem Prüfstand.

 

Maja Göpel fordert die Gegenleistungen der Unternehmen für staatliche Stützmaßnahmen fordert. Sie sagt: «Vieles war überfällig, ob man darüber redet oder nicht. Wir können nicht mehr nach Schuldigen suchen, wir müssen fragen: ‹was muss intakt bleiben, damit die Versorgungssicherheit gewährleistet bleibt?› Eine krisensichere Wirtschaft macht weniger Profit (weil in einer resilienten Ökonomie ein relevanter Teil des Profits an die produzierenden Menschen, Systeme und ausgebeuteten Ressourcen zurückfliesst). Jetzt wird deutlich, dass ‹geht nicht› schlicht und ergreifend ‹ich will nicht› heisst.»

Adelheid Biesecker sagt: «Unsere Wirtschaft funktioniert nur, weil es Menschen gibt, die geboren, umsorgt, gefüttert, ausgebildet werden. Die Pandemie legt offen, was am Kapitalismus nicht funktioniert.» Die Pandemie zeigt uns, dass Pfleger, Kinderbetreuerinnen und andere schlecht bezahlte Berufe sowie die vielen unbezahlten Stunden, in denen vor allem Frauen zu Hause Mittagessen kochen, Schulaufgaben betreuen und Arzttermine koordinieren, systemrelevant sind für unsere Gesellschaft. Wird diese Arbeit nicht geleistet, bricht das Erwerbsleben zusammen. Wir verdrängen, dass unsere Wirtschaft nur funktioniert, weil es Menschen gibt, die geboren, umsorgt, gefüttert, ausgebildet werden – sie sind das Humankapital und die Konsumenten. In der Schweiz werden 81 Prozent der Care-Arbeit unbezahlt geleistet, überwiegend von Frauen. Das entspricht 1,2 Millionen Vollzeitstellen. Die Arbeit, die um uns Menschen anfällt, muss also Teil wirtschaftlicher Überlegungen sein.

Corona zeigt ausserdem, dass der Möglichkeitsraum des politischen Handelns viel grösser ist, als wir dachten. Alles lässt sich abstellen. Und sofort atmet die Natur auf: Der Himmel wird blau, Füchse streifen durch die Städte, und seltene Vogelarten kehren zurück. Die heutige Ökonomie-Lehre ignoriert zwei Bereiche komplett: die sorgenden Tätigkeiten und die Natur. Sie betrachtet die Wirtschaft vor allem als System von Märkten, in denen der Preis ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage herstellt. Die Konsumierenden maximieren ihren Nutzen und die Unternehmer ihre Gewinne. Die Ressourcen der Natur und die sorgenden Tätigkeiten werden aber erst seit dem 18. Jahrhundert als selbstverständlich vorausgesetzt. Dieses Denken hat kein Verständnis hat für Reproduktion – dafür, dass Natur und Mensch sich erholen müssen. Eigentlich dürften wir nur so viele Fische aus dem Meer holen, dass die Schwärme sich erneuern können, so viele Bäume fällen, wie in der gleichen Zeit nachwachsen. Bodenschätze wie Kohle und Öl sind in unserer Perspektive überhaupt nicht regenerierbar – sie sind Millionen von Jahren alt. Wir müssten sie also im Boden lassen.

Ende des 18. Jahrhunderts führte Olympe de Gouges eine Debatte mit Adam Smith über die Notwendigkeit einer vorsorgenden Ökonomie, die «Sich-Kümmern» als Arbeit würdigt. Anfang der 1980er-Jahre begannen die «new home economics» sich für die unbezahlte Arbeit zu interessieren: Sie bildeten die Familie wurde als kleine Fabrik ab. Wenn Ökonomie heisst, dass die Menschen frei und rational entscheiden, so die Logik, dann sind die Frauen zu Hause, weil sie am Markt weniger verdienen als die Männer. Kinder wurden zu Haushaltsendprodukten deklariert, quantitativ und qualitativ optimierbar. Das ist absurd, zeigt aber, dass die Frage, welche Rolle das Geschlechterverhältnis spielt, die herkömmliche Theorie erreichte.

Wir brauchen eine Wirtschaftsweise, die auf einem anderen Denkmodell basiert. Wir haben uns in den letzten 30 Jahren unbemerkt daran gewöhnt, dass das was meinen eigenen Nutzen maximiert, vernünftig sei. Dabei ist es vernünftig, so zu wirtschaften, dass unsere Bedürfnisse befriedigt werden und zugleich Natur und Menschen sich erholen können. Obwohl die Annahme, der Mensch sei ein egoistischer Nutzenmaximierer, lebensfremd ist, hält sie sich hartnäckig in der modernen Wirtschaftstheorie. Adam Smith ging 1759 von einer gewissen Moral des Menschen aus: Wenn zwei um die Wette laufen und einer strauchelt, bleibt der andere stehen und wartet, bis der Konkurrent wieder aufgestanden ist. Dieses Mindestmass an Moral ist verloren gegangen beim Homo oeconomicus, von dessen Menschenbild wir uns nun verabschieden müssen.

Die Corona-Krise zeigt uns nun deutlich, dass wir eine vorsorgende Ökonomie brauchen. Sie basiert auf einem humanistischen, nachhaltigen Verständnis. Aus der humanistischen Perspektive orientieren sich die Menschen sich an ihren Werten, z.B.: Ich stehe im Supermarkt vor dem Kaffeeregal und habe die Wahl zwischen einem herkömmlichen Kaffee und einem, der teurer ist, weil er fair gehandelt wurde. In Immanuel Kants Menschenbild bin ich in der Lage abzuwägen, ob ich bereit bin, für den fair gehandelten Kaffee mehr zu bezahlen. Der Homo oeconomicus würde immer den günstigeren Kaffee nehmen. Der Soziologe Amitai Etzioni sagt: «The I needs a We to Be», das Ich braucht ein Wir um zu sein. In seinem Modell ist dem Menschen die soziale Anerkennung viel wichtiger als der eigene Nutzen. Aus der ökologischen Perspektive strebt der Homo sustinens nach Nachhaltigkeit. Aus der feministischen Perspektive sind die Menschen fähig, für sich und andere zu sorgen.

Wir müssen also die Perspektive wechseln. Die Frage ist nicht: Was können die Natur und die unbezahlte Arbeit für den Markt tun? Sondern: Wie müssen wir unsere Wirtschaft verändern, damit sie den Menschen heute und in der Zukunft ein gutes Leben ermöglicht und die Natur bewahrt?

Die Pandemie hat auch gezeigt, wie verletzlich unsere globalisierte Wirtschaft aufgrund der Abhängigkeit von internationalen Lieferketten ist. Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in den 1990er Jahren ging der Kapitalismus als ideologischer Sieger aus dem Kalten Krieg hervor. Das war die Legitimation, unser Wirtschaftssystem in alle Winkel der Welt auszudehnen. Diese Art der Globalisierung macht uns nicht nur verletzlich, sie ist auch schädlich, denn sie zerstört vielerorts die Subsistenzwirtschaft: Es werden Märkte konstruiert und Menschen, die sich bisher selbst versorgten, enteignet und von diesen Märkten abhängig gemacht.

Prinzipiell ist der Markt eine kluge gesellschaftliche Erfindung. Schliesslich kann ich beim Bäcker mein Brot nicht mit einem wissenschaftlichen Aufsatz bezahlen, wohl aber mit Geld. Der Markt verbindet anonyme Menschen miteinander durch Kauf und Verkauf. Doch wie lange noch sind Märkte darauf ausgerichtet, Gewinn zu machen? Damit verknüpft ist die Frage nach dem Wachstum. Manche Dinge müssen wachsen, zum Beispiel eine gute Pflege für Alte und Kranke oder eine ökologische Landwirtschaft. Problematisch ist der Wachstumszwang, den Carolin Emcke Wachstumsobsession nennt, der zu immer mehr Rohstoffverbrauch, mehr Produkten, mehr Einnahmen führt. Die Politik hat dieses Modell bereitwillig übernommen, weil «immer mehr» auch mehr Steuereinnahmen bedeutet und es möglich macht, mehr Geld zu verteilen. Das entschärft den Verteilungskonflikt. Sobald wir über neues Wirtschaften nachdenken, denken wir also auch über Gerechtigkeit nach.

Eine Gesellschaft ohne Wachstumszwang ist eine Gesellschaft, die sich auf die Bedürfnisbefriedigung konzentriert. Sie würde mit den Arbeitenden und mit den Konsumierenden zusammen fragen: Was brauchen wir wirklich? Und wie stellen wir das her? Wir kämen zu einer Wirtschaftsweise, die demokratisch basiert ist und – ich sage es mal ganz deutlich – sehr viel weniger produzieren würde. Und das bedeutet, die Produktion von Gütern herunter zu fahren, etwa von Automobilen. Denn: Wenn ich etwas herstelle, bedeutet das immer: Ich brauche Naturstoffe, und sei es nur Energie. Und ich brauche Arbeitskräfte. Es geht also darum zu verstehen, dass wir nur so viel produzieren können, wie der Mensch und die Natur aushalten. Nach wie vor sichern unsere westlichen Gesellschaften ihre Lebensweise durch die Ausbeutung von Naturschätzen und die Dominanz über andere Länder. Der Kapitalismus ist so attraktiv, weil er Wohlfahrt für alle verspricht, aber er kann das Versprechen immer nur für einen Teil der Gesellschaft einlösen. Selbstverständlich kann man den Menschen in China und in Indien nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben. Aber sie orientieren sich an unserem westlichen System, deshalb müssen wir ihnen zeigen, dass es auch anders geht.

Individuelle Handlungsansätze: Man vergisst leicht, dass unser Wirtschaftssystem keine höhere Gewalt ist, sondern dass Menschen es sich ausgedacht haben. Wir alle sind Kinder unserer Zeit. Wir verhalten uns, als seien wir einverstanden. Es geht um einen kulturellen Wandel in unseren Köpfen. Ein Anfang kann sein, sich zu sagen: Ich kaufe nur regionale Produkte. Oder: Ich überlege mir genauer, was ich wirklich brauche.

Politische Handlungsansätze: In den letzten Wochen hat die Politik gezeigt, dass sie viele Möglichkeiten hat, strukturell tätig zu sein. Nehmen wir als Beispiel den Kohleabbau im deutschen Nordrhein-Westfalen. Dort arbeiten noch knapp 20 000 Menschen. Es wird eine Naturzerstörung weitergetrieben, die eigentlich unglaublich ist. Hier könnte die Politik sagen: Wir schliessen die Bergwerke, ihr bekommt alle für die nächsten drei Jahre ein Grundeinkommen. In dieser Zeit könnt ihr euch Gedanken über die Zukunft machen, gemeinsam etwas Neues anfangen, euch auf andere Stellen bewerben, euch weiterbilden oder, je nach Alter, vorzeitig in Rente gehen.

Zwei weitere konkrete Schritte würde Biesecker auf politischer Ebene anpacken:

Erstens würde ich all jenen, die im Moment mit neuen Formen des Wirtschaftens experimentieren, ein Grundeinkommen geben – sagen wir: für fünf Jahre. Die Robert Bosch Stiftung fördert beispielsweise das Projekt «Neulandgewinner»: Einzelpersonen, Vereine und Initiativen beleben verlassene Dörfer in Ostdeutschland. Ein interessantes Experiment ist auch die Solidarische Landwirtschaft: Menschen aus der Stadt kooperieren mit Landwirten aus der Region, indem sie deren Produkte zu einem festen Preis abnehmen, was die Landwirte vom Markt unabhängig macht; dafür können die Städter mitbestimmen, was angebaut wird. Oder die Commons-Bewegung: Urbane Gärten werden von vielen Menschen gemeinsam bepflanzt, der Ertrag wird unter ihnen aufgeteilt. Keiner von uns weiss zum jetzigen Zeitpunkt genau, wie eine vorsorgende Wirtschaft am Ende aussehen wird. Aber wir müssen uns auf den Weg machen.

Zweitens würde ich die Erwerbsarbeitszeit radikal verkürzen. Wir haben einfach anderes zu tun. Heute wird oft gesagt: «Ich hab keine Zeit für Ökologie, ich gehe in den nächsten Supermarkt, weil ich weiterarbeiten muss.» Die Zeit ist eine wesentliche Dimension. Die 40-Stunden-Arbeitswoche wurde erfunden, als die Frauen ihren Männern noch zu Hause «den Rücken freihielten. Das ist aber immer seltener der Fall. Ich halte eine 20-Stunden-Arbeitswoche für realistisch, also beispielsweise an fünf Tagen je vier Stunden. Das ermöglicht allen Erwerbsarbeit – Männern wie Frauen. Und so könnten wir die Männer gleichwertig in die Sorgeprozesse einbeziehen: Frühstück zubereiten, Wäsche waschen, die Katze der Nachbarin füttern, die Schwester anrufen und trösten, einkaufen, staubsaugen, Schuhe putzen, … Zugleich brauchen wir das Recht, aus dem Erwerbsleben auszusteigen, etwa um kranke Familienmitglieder zu pflegen. Das muss finanziert werden, entweder durch ein Grundeinkommen oder indem der Lohn weitergezahlt wird.

Der Lohn muss zum Leben reichen. Nehmen wir die beklatschten Alten- und Krankenpflegerinnen: Mit denen muss ich derzeit nicht über eine 20-Stunden-Woche sprechen – denn davon können sie nicht leben. Wir müssen nach Wegen suchen, die vorsorgenden Arbeiten zu stärken, denn es geht ja auch um künftige Generationen.: Jeder braucht Sorge, wir alle sind sorgebedürftig, jeder kann Sorge leisten in einer sorgenden Demokratie. Wenn wir eine 20-Stunden-Woche einführen, müssen wir in den westlichen Ländern auf Dinge verzichten zugunsten derer, auf deren Kosten wir heute leben, und zugunsten der Natur. Denn wir haben nicht nur den Güterwohlstand, sondern auch den Zeitwohlstand. Die Idee der 20-Stunden-Woche ist nicht, dass alles halbiert wird, sondern, dass die Arbeit verteilt wird. Wir würden neue Lokführer ausbilden, und es gäbe keine Arbeitslosen mehr.

Sie fragen vielleicht, wie wir das finanzieren können. Wie viel Geld da ist, sehen wir jetzt in der Corona-Krise. Unzählige Milliarden wurden innert kürzester Zeit verteilt. Steuerlich können wir das tragen, z.B. mit einer Finanztransaktionssteuer. Biesecker folgert: «Leben und wirtschaften wir so, dass auch in Zukunft ein gutes Leben möglich ist!»

 

Uff! Das ist aber ein SEEEEEEHR langer Beitrag, mögen Sie sagen. Finde ich auch. Doch um den komplexen Zusammenhängen gerecht zu werden, erscheint mir eine allzustarke Verkürzung riskant. Somit wage ich es, Ihnen diese Ausführlichkeit zuzumuten. Und bitte um Nachsicht:-)

 

Bleiben Sie gesund und bleiben Sie verbunden. 
Ihre Regula Hug 

 

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